Tiefenrauschen von Regina Weiss, 2023
Evgenija Wassilews künstlerischer Ansatz ist ein forschender. Forschend bedeutet, Dingen nachzuspüren, sie so genau wie möglich zu betrachten, Verknüpfungen und Zusammenhänge herzustellen und während des ganzen Prozesses die möglichen Ergebnisse nicht bereits im Voraus zu kennen oder gar zu determinieren. In diesem Sinne ist die Arbeit der Künstlerin nicht produktorientiert. Trotzdem stehen am Ende ihrer Experimente und Untersuchungen zumeist physische Arbeiten oder solche, die physisch erfahrbar sind und dazu dienen, Ausgangspunkte oder einzelne Stationen ihrer Untersuchungen sichtbar werden zu lassen. Was man tradierterweise in der bildenden Kunst als die Entwicklung einer eigenen „Handschrift“ bezeichnet, spiegelt sich bei Wassilew in ihrer Herangehensweise wider, in der Art, wie sie die Dinge betrachtet und verbindet.
Gegenstand ihrer künstlerischen Forschung sind alltägliche Phänomene und Erfahrungen, zumeist aus dem Bereich des Auditiven. Es sind (Hintergrund-)Geräusche, nicht wahrnehmbare Klangwellen und Interferenzen, die uns selbst in vermeintlicher Stille umgeben, ohne dass wir ihrer gewahr werden oder sie bewusst hören. Die Mittel, mit denen sich die Künstlerin ihnen annähert, sind (Geräusch-) verstärkende Techniken sowie das der Transkription; das heißt der Übertragung eines kaum wahrnehmbaren Phänomens in ein anderes Medium, wodurch Ersteres sichtbar oder erfahrbar werden kann. Oft wird dabei ihr eigener Körper selbst zum Medium.
Im Allgemeinen versteht man unter „Stille“ die Abwesenheit von Geräuschen. Evgenija Wassilews Arbeiten zeigen uns jedoch, dass auch die vermeintliche Stille voll von Geräuschen sein kann, die von uns kaum wahrgenommen oder selektiv aus dem oder durch das uns Umgebende(n) verdrängt werden. Stille hat also ihren jeweils eigenen „Klang“. Oder anders ausgedrückt: Stille ist Klang. Die Erfahrung von Stille wird oft als etwas Besonderes wahrgenommen, da sie einer Zäsur gleichen kann. In diesem Sinne erfahren wir sie zunächst als einen Einschnitt in den von uns wahrgenommenen Fluss von Geräuschen. Sie stellt eine (plötzliche) Veränderung dar, die auch unser Empfinden von Zeit berühren kann. Denn in der Stille scheint auch die Zeit stillzustehen. Anstatt uns mit sich fortzureißen, dehnt sie sich aus, sowohl um als auch in uns. Und wir erfahren nicht mehr nur das, was uns umgibt, sondern zugleich unseren eigenen Körper, unser Selbst. Als eine Art Schnittstelle zwischen unserer Umgebung und unserem Körper verbindet die Erfahrung von Stille die Außenwelt um uns herum mit der Welt in unserem Inneren.
Der avantgardistische Komponist John Cage, der sich in seinem Schaffen auf besondere Weise mit der Stille beschäftigte, formulierte seine Erfahrungen, die er in einem schallisolierten Raum machte, folgendermaßen: „Ich hörte, dass Schweigen, dass Stille nicht die Abwesenheit von Geräuschen war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufes.“
An eine ähnliche Erfahrung erinnert auch die 2021 entstandene Komposition Soft Tinnitus (Phantom Noise) von Evgenija Wassilew. Diese ist durch Rückkopplungen zwischen einem Audioaufnahmegerät in der einen, und einem Schallwandler in der anderen, geschlossenen Hand entstanden, ohne das Vorhandensein einer direkten Schallquelle. Ein Phänomen, das, wie auch der Titel andeutet, Ähnliches beschreibt wie das Hören von Geräuschen im Ohr, etwa bei einem Tinnitus, der als hörbar erfahren wird, obwohl keine Geräusche von außen ihn verursachen. Es ist, wie auch von John Cage beschrieben, die geräuschvolle Erfahrung von Stille, die Erfahrung eines Rauschens im eigenen Körper. Durch die räumliche Anordnung des Ausstellungsraumes geht die Künstlerin bei der Präsentation ihrer Arbeit jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie die Klangreflexionen in der vorhandenen Verengung des Raumes nutzt und so die Rezipient*innen auch physisch von der Weite einer äußeren Umgebung durch eine Engführung – vergleichbar mit der Windung eines Gehörgangs – ins Rauminnere und somit auch in die eigene Klangwelt ihrer Installation führt.
Bei ihrer seit 2020 fortlaufenden Arbeit Radio (News Listening) verbindet Wassilew den Vorgang des Hörens direkt mit ihrem eigenen Körper. Hierbei beschäftigt sie sich mit den verschiedenen Wahrnehmungsebenen beim täglichen Hören des Nachrichtenradios. Ähnlich wie ein seismografischer Apparat führt sie dabei während des Hörens per Hand einen mit einer Kugelschreibermine versehenen, elektrisch verstärkten Gravierstift an einem Lineal entlang. Ihre Konzentration liegt dabei allerdings nicht, wie zu vermuten wäre, auf dem geraden Ziehen einer Linie, sondern auf all dem, was bei einer solchen Fokussierung zwar anwesend, aber aus der eigenen Wahrnehmung als Ablenkung ausgeblendet wird. So spürt sie mit ihrer Hand ihren eigenen Empfindungen beim Hören, der Sprachmelodie und dem Tempo des gesprochenen Nachrichtenflusses nach. Hierbei entstehen feinste Wellen und Kurven, Kritzel, Linien und Flächen.
Wie bei der „Écriture automatique“, dem automatischen Schreiben der Surrealist*innen, verzichtet Wassilew in dieser Arbeit auf eine bewusste Kontrolle der eigenen Tätigkeit. Vielmehr widmet sie sich hier, ähnlich wie bei den Geräuschen von Soft Tinnitus (Phantom Noise), die erst in der Stille wahrnehmbar werden, verstärkt den inneren Regungen, die durch Gehörtes bei ihr ausgelöst werden und die zeitgleich ohne ihre Beeinflussung stattfinden. Von diesen inneren Bewegungen geleitet, übersetzt und transkribiert Evgenija Wassilew das von ihr Wahrgenommene in Radio (News Listening) nicht in akustische Geräusche, sondern in Bewegungslinien. Diese ähneln der schriftlichen Fassung einer fremd anmutenden Sprache, die für uns normalerweise vor allen Dingen eigentlich eines ist, nämlich wortlos: Es sind die fließenden, springenden, stockenden Bewegungen und Regungen unserer eigenen Gefühle und Gedanken.
Auf eine besondere Weise jedoch wird die komplexe Durchdringung von Stille, Geräusch und der eigenen Wahrnehmung sowie deren Verbindung zum Raum und Resonanzraum des eigenen Körpers in der Arbeit time is an album von 2022 deutlich. Hierfür hat die Künstlerin ein Archiv aus Kurznachrichten und Eilmeldungen in verschiedenen Schriftgrößen und Graustufen beidseitig auf Papierbögen gedruckt. Die unterschiedlichen Schichten des Papiers und der Tinte kommen durch ein wiederholtes Ankleben und Abreißen der Blätter an und von der Wand des Galerieraumes, in dem die Arbeit präsentiert wurde, zum Vorschein. Der aufgedruckte, nicht abreißen wollende Fluss an Informationen verdichtet sich so durch die manuelle Bearbeitung zu einer Textur, in der nur noch vereinzelt Wörter oder Satzfragmente zu lesen sind. Die abstandslose Aufbringung der Papierschichtungen auf der Wandfläche suggeriert eine endlose Tiefe. So scheinen die Textschichtungen und -fragmente regelrecht aus der Wand herauskommend aufzutauchen. Sie könnten die ganze Wand durchdrungen haben, sodass diese aus einem einzigen Fluss an Informationen besteht und wir uns nicht mehr in einem festen Raum befinden, sondern umgeben sind von einem fluiden Gewebe aus Informationen und Geräuschen. Einem steten Redefluss, der uns wie ein Echo mit seinem Hintergrundrauschen begleitet. Erst an der Oberfläche gerinnt die Textur zum Bild, wird zu einem Moment der Stille, die uns wieder zurückkatapultiert in einen Raum mit festen Wänden. Die Textstrukturen regen die Betracher*innen dazu an, entziffert und gelesen zu werden, wodurch die ‚Stille‘ erneut durchbrochen wird. Diesmal von der eigenen Stimme im Kopf. Sie vermischt sich mit den Stimmen derer, die die Kurznachrichten und Eilmeldungen einmal geschrieben, gelesen und gesprochen haben. Die Spuren der Bearbeitung der Papierflächen – die des Abreißens – können als Zäsur im Sinne einer Aktion des Augenblicks, die pure Gegenwart verkörpert, gelesen werden. Durch sie erhält die Wandarbeit ihre Rhythmisierung, die die fortlaufende Bewegung des Informationsflusses und somit auch die der vergehenden Zeit mit ihrer eigenen Sedimentierung und Verfestigung verbindet. Bewusst wird dabei die Kurzlebigkeit der vielen Nachrichten, unabhängig von ihrem Inhalt. Losgelöst von der Zeit ihres Ursprungs und den mit ihnen verknüpften Handlungen treiben diese dahin und verfangen sich nur kurz im Netz der eigenen Aufmerksamkeit. Die aus Textüberlagerungen bestehenden Papierschichtungen an der Wand werden so zu kleinen, auf- und abtauchenden Inseln in unserem Bewusstsein, unsichtbar getragen von der Masse aller durch die Künstlerin versammelten Geschehnisse.
Folgt man dem roten Faden, der sich durch die beschriebenen Arbeiten von Evgenija Wassilew zieht, könnte man ihn als eine Auseinandersetzung mit auf den ersten Blick Gegensätzlichem beschreiben: Stille und Geräusch, Bewegung und Stillstand, Bewusstsein und Unbewusstes. Was sich bei genauerer Betrachtung in den Arbeiten verdeutlicht, sind jedoch weniger die konträren Eigenschaften der Phänomene als vielmehr gerade das, was sie miteinander verbindet – die Tatsache, dass das eine ohne das andere überhaupt nicht wahrnehmbar und somit für uns gar nicht erst vorhanden wäre. Deutlich wird zudem das Kontinuum der Fluidität. Ein Phänomen geht in das andere über: Geräusche werden zu Stille und Stille zu Geräusch. Was die Phänomene vereint, ist, dass sie uns letztendlich von der Zeit erzählen. Sie lassen uns Ihr Vergehen spüren, welches nur durch die Zäsur des gegenwärtigen Augenblicks überhaupt als fließend erfahren werden kann. Evgenija Wassilews Arbeiten beschreiben diese Phänomene nicht nur, sie machen sie visuell und vor allen Dingen physisch erfahrbar. Die Künstlerin als Forschende bedarf hierzu keiner Theorien. Sie greift in ihren Untersuchungen auf eigene Erfahrungen zurück, welche letztlich nicht allein ihre, sondern unser aller Erfahrungen sind. Dabei nimmt sie uns ganz leicht an die Hand, um gemeinsam in die Tiefe zu gehen, wo in der Stille „Überhörtes“ seinen Raum findet.